Noch sind intelligente Assistenzsysteme für zu Hause selten. Doch die Entwicklung schreitet rasch an. So gibt es inzwischen intelligente Betten, die Menschen mit Bewegungseinschränkungen beim Aufstehen helfen. Über den aktuellen Stand der Dinge in Sachen Ambient Assisted Living (AAL) sowie über künftige Entwicklungen sprachen wir mit AAL-Expertin Christine Weiß. Die Maschinenbauingenieurin ist seit dem Jahr 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH.
Ingenieure, Designer und Sozialwissenschaftler beschäftigen sich zunehmend mit dem Thema „Ambient Assisted Living“. Wie weit sind wir denn in Deutschland?
Was die Forschung angeht, sind wir in Deutschland europaweit führend. Viele Modellvorhaben wurden inzwischen initiiert und umgesetzt. Allerdings sind erst wenige Lösungen auf dem Markt erhältlich. Experten erwarten auf jeden Fall einen hohen Nutzen von Assistenzsystemen und glauben, dass AAL eine Antwort auf den demographischen Wandel sein könnte. Allerdings muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass es hierzu erst wenige Studien gibt.
Immer noch ziehen viele Senioren in ein Heim, obschon es eine Menge Hilfsmittel gibt: Rollatoren, Treppenlifter, Hausnotrufsysteme. Was wäre denn darüber hinaus im nächsten Schritt notwendig, um das selbstständige Wohnen im Alter zu ermöglichen?
Nach meiner Einschätzung gehören Systeme für mehr Sicherheit im häuslichen Bereich zu den nächsten Schritten. Zum Beispiel Systeme zur Sturzerkennung und Sturzvermeidung. Aber zum Beispiel auch Technologien, durch die automatisch der Herd abgeschaltet wird. So etwas ist vor allem für demenziell erkrankte Menschen wichtig.
Die Produktpalette scheint ja sehr groß zu sein.
Ja, das stimmt. Das geht hin bis zu intelligenten Toiletten. Diese gewähren durch ein vollautomatisches Reinigungssystem Hygiene auch bei körperlicher Einschränkung.
Es gibt inzwischen in manchen Firmen sogar Produktmanager für das Thema AAL, die Akzeptanzbarrieren erfassen und Marktstudien erstellen. Das lässt erahnen, dass es bald einen Entwicklungsschub in Sachen „Ambient Assisted Living“ geben könnte.
Der Entwicklungsschub für AAL wird vor allem dann kommen, wenn die Pflegebranche Ambient Assisted Living noch mehr zu ihrem Thema macht. Derzeit geht es unter dem Begriff AAL ja in erster Linie um Gebäudeautomatisierung. „Smart Home“ lautet das Stichwort. Die Gesundheitsbranche verfolgt außerdem telemedizinische Ansätze. Die Pflege hingegen hat Assistenztechnologien noch nicht so stark im Fokus.
Das stimmt, nach wie vor runzeln viele Menschen die Stirn, wenn sie von Assistenzsystemen für den Alltag hören. Wie begegnen Sie denn dieser Skepsis?
Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegekräfte müssen den direkten Nutzen von AAL erkennen! Für Forscher heißt das, dass sie nicht zu stark von sich selbst ausgehen dürfen, sondern wirklich die künftigen AAL-Anwender in den Blick nehmen müssen. Und sie müssen die Bedenken der Menschen ernst nehmen. Ich selbst gehe davon aus, dass es positive die Reaktionen auf AAL geben wird, wenn die Menschen den Nutzen mitbekommen. Also, dass dadurch zum Beispiel Stürze erkannt oder verhindert werden.
Wenn ein alter Mensch in der Wohnung strauchelt, fällt und sich dabei Knochen bricht, kann das in der Tat fatale Konsequenzen haben. Wie könnten denn Stürze durch AAL konkret erkannt werden?
Zum Beispiel durch intelligente Teppiche. Dabei handelt es sich um eine Sensorenmatte, die unter jede Art von Bodenbelag gelegt werden kann. Selbst unter Parkett. Dieser Teppich erkennt, dass sich plötzlich nicht nur zwei Füße über den Boden bewegen, sondern ein Körper lang ausgestreckt daliegt.
Sind diese Teppiche auch in der Lage, selbstständig Notrufe zu senden?
Ja. Bleibt der Mensch längere Zeit auf dem Boden liegen, wird automatisch ein Notruf ausgelöst. Wer konkret kontaktiert wird, kann im Vorfeld individuell festgelegt werden.
Wird AAL nicht Unsummen kosten? Wie sollen sich Seniorinnen und Senioren mit Minirente solche hochmodernen Assistenzsysteme leisten?
Die Frage der Finanzierung ist in der Tat schwierig. Ein Ansatz wäre das, was man unter den Begriff der „sorgenden Gemeinschaft“ fasst. Die Finanzierung häuslicher Unterstützung wird demnach auf mehrere Schultern verteilt. Ein Teil muss sicher privat vom Patienten oder seinen Angehörigen bezahlt werden. Es würde aber auch für Kommunen sinnvoll sein, AAL zu finanzieren, da sie dadurch von Kosten für Heimaufenthalte von Pflegebedürftigen mit geringer Rente entlastet werden.
Zur Person:
Christine Weiß ist Diplom-Ingenieurin für Maschinenbau mit Fachrichtung Biomedizinische Technik. Sie studierte an der Technischen Universität Berlin und absolvierte eine halbjährige Werkstudententätigkeit bei Siemens Medical Systems in den USA. An das Studium schlossen sich fünf Jahre industrielle Forschung und Entwicklung bei der Firma B. Braun Melsungen AG im Bereich „Invasives Monitoring“ an. Zu Ihren aktuellen Aufgaben als Seniorberaterin gehört die Vorbereitung, Begutachtung und Begleitung von Themenschwerpunkten im Innovationsfeld „Gesundheit & Demografie“ des BMBF-Rahmenprogramms „Mikrosysteme“ (2004-2009).