Länger zu Hause leben

„Telemedizin und Assistenzsysteme: Viel Potenzial im privaten Raum“, titelte das Deutsche Ärzteblatt im November. Darin prophezeite Ärzteblatt-Autorin Heike Krüger-Brand, dass Assistenzsysteme „mittelfristig“ in der eigenen Wohnung nicht mehr wegzudenken sein werden. Warum? Die eigene Wohnung, sagen Experten, wird sich in den kommenden Jahren zum „dritten Gesundheits- standort“ wandeln. Was heute ausschließlich in Arztpraxen oder Kliniken geschieht, wird sich zunehmend in den eigenen vier Wänden vollziehen.

Unter dem sperrigen Begriff „Ambient Assisted Living“ (AAL) entwickeln Forscherinnen und Forscher in ganz Europa Systeme, die in naher Zukunft realisieren wollen, was heute noch unmöglich erscheint. Auch Würzburger Wissenschaftler vom „Zentrum für Telematik“ in Gerbrunn sind in diesen Prozess integriert. Sie entwickeln derzeit zum Beispiel eine intelligente Waage für Menschen, die an einer schweren Nierenkrankheit leiden. Die Waage misst verschiedene Parameter, die Aussagen über den Zustand des Patienten erlauben. Drahtlos werden die Daten an ein telemedizinisches Zentrum übermittelt. Dort erkennt man sofort, wenn etwas nicht stimmt. Und nimmt Kontakt auf.

Durch Assistenzsysteme zur Bewältigung des Alltags vervielfachen sich die Chancen für ältere Menschen, lange in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Als „Türöffner“ in diesen Zukunftsmarkt gelten Hausnotrufsysteme. Damit können Senioren rund um die Uhr Alarm auslösen, wenn es ihnen nicht gut geht oder sie gestürzt sind. Kooperationspartner ist in diesem Fall meist ein Wohlfahrtsverband wie das Rote Kreuz oder die Malteser. Wird Alarm ausgelöst, erscheint auf dem Monitor in der Zentrale dieses Verbands sofort das Krankheitsbild des Betroffenen. Außerdem wird eine vorher genau festgelegte Ablaufkette gestartet: Der Rettungsdienst wird losgeschickt, bestimmte Angehörige verständigt.

Zum jetzigen Zeitpunkt nutzen allerdings noch die wenigsten Senioren dieses relativ einfache Dienstleistungsangebot zur Fernbetreuung. Etwa vier Prozent sind es aktuell in Deutschland. Das ist prozentual gesehen zwar immerhin bereits doppelt so viel wie in Frankreich oder Italien. „Doch in Holland und England gibt es 10 Mal so viele Anschlüsse wie bei uns“, sagt Ralph Hoffert vom Deutschen Roten Kreuz. Nur sehr betagte Senioren lassen sich auf ein Hausnotrufsystem ein – oder bekommen eines von ihren Angehörigen „verordnet“. Dies trägt Hoffert zufolge zum Negativimage des Systems bei – Senioren verweigerten sich, weil sie befürchteten, damit in eine Art „Endstation“ zu münden.

Über alle Assistenzsysteme hinweg stellt sich die Frage, ob sie für Menschen ohne tiefgehende technische Ahnung eigentlich geeignet sind. Forscher erklären unisono: „Ja, klar!“ Doch so einfach ist das nicht. Die Akzeptanzprobleme, mit der die AAL-Branche derzeit noch zu kämpfen hat, seien nicht zuletzt auf zu techniklastige Entwicklungen zurückzuführen, sagt Dr. Annett Kröttinger von der Deutschen Stiftung für chronisch Kranke. Außerdem würden oft zu viele Daten gesammelt. Schließlich sind gerade ältere Menschen nicht bereit, auf Kommunikation zu verzichten. Nur wenn menschliche und soziale Aspekte mitberücksichtigt werden, hat AAL laut Kröttinger eine Chance.

Senioren-Technik-Tag
Am 25. Januar 2012 wird zum zweiten Mal der Senioren-Technik-Tag in Berlin stattfinden. Hier können sich ältere Menschen über altersgerechte Assistenzsysteme informieren. Deren Entwicklung wird vom Bundesforschungsministerium mit Förderprojekten forciert. So wird aktuell erforscht, wie mit Hilfe intelligenter Sensoren in der Wohnung Stürze automatisch erkannt und Hilfe alarmiert werden kann. Außerdem werden Internetplattformen entwickelt, über die sich Angehörige über den Gesundheitszustand eines fern von ihnen lebenden Pflegebedürftigen informieren können.

Noch sind also viele Probleme anzugehen. Gelöst werden sollen sie nicht zuletzt mit der neuen Forschungsagenda „Das Alter hat Zukunft“ der Bundesregierung für den demographischen Wandel. Eines von vielen Zielen, die hierdurch erreicht werden sollen, heißt: „Mehr Lebensqualität durch die Verbindung von Technik und Dienstleistung“. Dabei soll Technik auf eine Weise mit menschlicher Fürsorge kombiniert werden, dass die Achtung der menschlichen Würde in der Betreuung gewahrt bleibt. Im Projekt „RAALI – Roadmap AAL-Interoperabilität“ des Bundesforschungsministeriums wird gleichzeitig versucht, einzelne AAL-Systeme besser miteinander zu verbinden.

Foto: Würzburger Wissenschaftler vom „Zentrum für Telematik“ in Gerbrunn (von links: Matthias Görs, Professor Dr. Klaus Schilling und Roland Marx) entwickeln Systeme, mit denen Menschen mit chronischen Krankheiten von zu Hause aus fernbetreut werden können. Foto: Pat Christ

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Von Pat Christ

Sie ist seit vielen Jahren als freie Journalistin in Würzburg mit Schwerpunkt "Soziales" tätig.

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