Sprachlos – von Aphasie betroffen

Tiefenbacher1Sich von Klängen entführen lassen. Dorthin, wo es schön und gut ist. Für Stefan Tiefenbacher ist Musik ein Elixier. Mehr noch. Sie half dem 40-Jährigen, der vor 16 Jahren schwer verunglückte, psychisch zu überleben. In welchem Maße er mit der Musik verwoben ist, demonstrierte er am 10. März bei der Eröffnung der 19. Würzburger Aphasie-Tage des Zentrums für Aphasie & Schlaganfall Unterfranken, an dem 650 Betroffene, Angehörige und Fachleute aus dem deutschsprachigen Raum teilnahmen.

Stefan Tiefenbacher, der Bauingenieurwesen studieren wollte, hatte gerade sein Abi in der Tasche, da passiert es: Er fuhr Motorrad, ein Autofahrer kam auf seine Fahrbahn und erwischte ihn. Der Unfall war grauenvoll. Tiefenbacher büßte den linken Arm und einen Teil seines linken Beines ein. Er erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und in der Folge eine Aphasie. Mit dem Unfall schienen alle privaten, beruflichen und musikalischen Pläne zerplatzt zu sein.

Einen Beruf kann der sympathische Künstler tatsächlich nicht mehr ausüben. Doch die Musik stand ihm, was er nie erwartet hätte, weiterhin offen.

Während seiner Reha lernte Tiefenbacher den Pianisten und Saxophonspieler Walter Weh kennen. Der machte ihm Mut, seinen musikalischen Weg weiter zu gehen. Bald darauf fand sich ein Klarinettenbauer, der Tiefenbachers Saxophon umbaute. Sämtliche Klappen befinden sich nun auf der rechten Seite. Tiefenbacher lernte, auf diese Weise zu spielen.

Der Auftritt des Künstlers im vollbesetzten Audimax der Universität Würzburg schlug die Teilnehmer der Aphasie-Tage sofort in Bann. Mit ihren authentischen Melodien boten der Saxofonist und sein Musikerkollege Walter Weh ein eindrucksvolles Konzert, das so ganz anders war als das, was man sonst kennt. Das lag keineswegs an Tiefenbachers Behinderung. Sowie der Musiker auf der Bühne steht, wird spürbar: Hier will jemand nicht einfach nur sein Können unter Beweis stellen. Hier liefert jemand nicht einfach nur eine perfekte Show ab. Hier ist jemand ganz und gar verwoben mit seinen mal eher melancholischen, dann wieder fetzig-groovigen Melodien.

Noten braucht es nicht
Wie viele Aphasiker, kann auch Stefan Tiefenbacher seit seinem Unfall keine Noten mehr lesen. Doch dies ist auch keine Voraussetzung dafür, Musik zu machen. Wie wichtig Menschen mit Aphasie trotz ihrer Einschränkung Musik ist, zeigte eine Abfrage von Aphasiespezialist Walter Huber, der den Eröffnungsabend moderierte. Auf die Frage: „Wem ist Musik wichtig?“ gingen etliche Hände im Audimax hoch. Kaum ein Mensch nach Schlaganfall und Aphasie, der nicht versuchen würde, Trost, Mut und Hoffnung aus Musik zu ziehen.
„Wenn ich singe, fühle ich mich frei“, erklärte Henrike Kleber aus Hochheim am Main, die an der von Huber moderierten Podiumsdiskussion am dritten Kongresstag zum Thema „Mit Musik zurück ins Leben“ teilnahm. Kleber, die in ihrer Familie früh musikalisch gefördert wurde, erlernte den Beruf der Musikpädagogin. Sie spielte Klavier und Geiger, wobei ihr Hauptinteresse vor ihrem Schlaganfall Gesängen und Tänzen aus Bulgarien galt.
1999 erkrankte sie schwer durch ein Aneurysma. Sechs Wochen lag sie im Wachkoma, ein halbes Jahr verbrachte sie auf Reha: „Seither arbeite ich an mir.“ Neuerlich entwickelte sie sich zur Musikexpertin. Heute ist Henrike Kleber eine gefragte Dozentin für Musikseminare mit Aphasikern.

„Komm doch wieder zur Probe!“
Auch Monika Blunck aus Bad Segeberg liebt es, zu singen. Bereits mit acht Jahren gehörte sie dem Kinderchor ihrer Heimatkirche an, mit 16 Jahren wurde die Sporanistin in den Segeberger Bach-Chor aufgenommen. Fünf Monate nach ihrer Gehirnblutung 2003 ermunterte sie ihr Chorleiter: „Komm doch wieder zur Probe!“
Mit anfangs gemischten Gefühlen folgte die studierte Betriebswirtin dieser Aufforderung. Schließlich konnte sie damals noch kaum sprechen: „Dann merkte ich, dass ich trotz Aphasie imstande bin, ganz normal zu singen.“ Das habe ihr sehr viel Selbstvertrauen, Kraft und Mut gegeben: „Ich ging nun noch lieber zur Probe als vor der Erkrankung.“ Überhaupt habe das Singen für sie eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Dem Würzburger Wirtschaftsjournalisten Michael Deppisch, der im Oktober 2014 einen ersten, im Juni 2015 eine zweiten leichten Schlaganfall erlitt, hilft Musik ebenfalls, mit der Erkrankung klarzukommen. Deppisch ist passionierter Drummer. Mit 14 Jahren baute er sein erstes Schlagzeug, vor 40 Jahren gründete er seine erste Band. „Mir war es bei der Musik immer wichtig, nicht in den Kommerz einzusteigen“, erklärte er. Musik sollte für ihn immer ein Ausgleich sein, sollte etwas sein, das jenseits des Geldverdienens angesiedelt ist.
Mit Hilfe des Schlagzeugs versucht er heute, zu verarbeiten, was ihm das Schicksal beschert hat. Auch wenn Deppisch nicht so schwer betroffen ist wie Stefan Tiefenbacher, Monika Blunck und Henrike Kleber, sitzt ihm das, was ihm widerfuhr, tief in den Knochen: „Der erste Schlaganfall war schlimm, der zweite einfach furchtbar gewesen.“
Deppisch zog sich zurück, weil er „Sprachstress“ vermeiden wollte. Umso wichtiger wurde sein Studio. „Hier Musik zu machen, ist pure Entspannung für mich“, berichtete der Journalist. Er stünde heute bei weitem nicht so gut da, hätte es die Musik nicht für ihn gegeben.

Bilunterschrift:
Stefan Tiefenbacher und Walter Weh beim Auftritt zur Eröffnung der 19. Aphasie-Tage.
Bild: Zentrum für Aphasie

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